„Der Schöpfer erschafft. Neigt er sich zu, spricht er, rettet er, kommt zu Hilfe, setzt sich durch? Vielleicht. Aber er erschafft; er erschafft alles und jegliches.“

be-Wegungen Text für März von Isolde Meinhard

In „Pilgrim at Tinker Creek“ führt Annie Dillard einiges von dem zusammen, was für mich die vergangenen Jahre erfüllt hat: Literatur, Erlebnisse in der Natur, Wissen zur Natur, spirituelle Erfahrungen, theologisches Nachdenken. Mit ihren Erzählungen entführt sie nicht in eine fiktive Welt, auch nicht in eine historische Begebenheit, sondern in Begegnungen zwischen dem Menschen, Annie Dillard, und Lebewesen oder Ereignissen außerhalb von Haus und Stadt. Ähnliche Erfahrungen, ganz als Gedichte, ja als Minimalia schreiben z.B. Christian Lehnert oder Marion Poschmann. „Nature writing“ – Natur, zur Sprache gebracht / ver-dichtet, oder auch: Schreiben, von Natur angesprochen – ist der inzwischen verbreitete Begriff dafür. Annie Dillard, Anfang der 1970er Jahre, ist eine Begründerin.

Die Rahmenerzählung folgt einem Jahreslauf, vom Vorjahr bis wieder in den Winter. Während sie am Fluss entlang streift, taucht Dillard in die Atmosphäre einer Jahreszeit – in drängende Fruchtbarkeit und Wachstum oder unaufhaltsame Zugunruhe oder fast unbelebte durchsichtige Klarheit – und verbindet damit Fragen nach dem menschlichen Leben in all dem Dasein und nach Gott.
Ebenso wie theologische Gedanken sind auch naturwissenschaftliche Kenntnisse in den Text gewoben. Aktuelle Beobachtungen, besonders in der Insektenwelt, ergänzt durch Ausflüge in ihre Erinnerung, verlangten nach Erklärungen. Aber Dillard will nicht Bescheid wissen über Spezies und Phänomene in der Natur. Sie möchte ihnen nahe kommen.

Die Erzählungen von diesen Begegnungen sind das literarisch Besondere und Reizvolle im Text. Manchmal wird sie von ihnen unvorbereitet überrascht: Im Hüpfen der Frösche vor ihren Tritten fällt einer auf, der hocken bleibt. Sie kniet nieder und schaut, genau in dem Moment, in dem das Lebenslicht in seinen Augen erlischt und seine Haut zusammen sackt. Manchmal sind sie der Lohn dafür, dass sie über Jahre Kenntnisse erworben und konzentriert gewartet hat: Wenige Handspannen neben ihr rauft eine Bisamratte Gras zusammen und bemerkt sie nicht. Manchmal erlebt Dillard etwas ganz anderes, als das, worauf sie gehofft hat: Ein Goldfink rupft Samen aus der verblühten Distel, und sie beginnen sonnendurchleuchtet im Wind zu tanzen, überall vor Wiese und Wald, vom Fenster gerahmt.

Wichtig sind diese Begegnungen nicht als unerhörte Begebenheiten, sondern als Momente der Präsenz. Mal treffen sie sie völlig überraschend, etwa an einer einsamen Autobahnraststätte, wo sie einen zutraulichen Welpen krault, während die sinkende Sonne und windgetriebene Wolken einen felsigen Höhenzug in Bewegung versetzen. Häufiger aber kommen sie hinzu, wenn Dillard eine bestimmte Haltung eingenommen hat: „Ich ziehe mich zurück – nicht in mich selbst, sondern aus mir selbst, so dass ich ein Gewebe von Sinnen bin.“ Selbst-Vergessenheit kann sie es auch nennen, und erfährt sie als unvergleichlich belebend, selbst wenn sonst nichts geschieht.

Dabei ist Dillard weit entfernt von romantischer Verklärung der Natur. Da sie genau hinsieht, kann sie den Reproduktionsdruck, das Beutemachen, die Beschädigungen im Lauf einer Lebensspanne nicht verklären. Sie stellt bittere Fragen nach Gott. Aber die geisterfüllten Momente führen sie in die Zuversicht, „dass das Neue immer zugleich gegenwärtig ist mit dem Alten, wie verborgen auch immer.“ Pilgerin am Tinker Creek zu sein, prägt ihren Glauben.

Annie Dillard, Pilgrim at Tinker Creek, Harper & Row, 1974;
deutsch von Karen Nölle, Pilger am Tinker Creek, hrg. von Judith Schalansky, Naturkunden 2016

(Text aus redaktionellen Gründen um 1 Jahr zurückdatiert – ist vom 1. März 22)

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